Nach Schätzungen der World Health Organization (WHO) sind weltweit über 200 Millionen Mädchen und Frauen betroffen.1 Insbesondere durch Migration wird auch Europa einbezogen. In Deutschland sind nach aktuellen Erhebungen etwa 70.000 Mädchen und Frauen von FGM/C betroffen.2,3
Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) gilt häufig als Grundvoraussetzung für die soziale und wirtschaftliche Integration von Mädchen und Frauen. Die Abwendung von FGM/C ist daher keine einfache Aufgabe und erfordert ein komplexes Ineinandergreifen von Aufklärung, Prävention und Therapie. In diesem Zusammenhang ist die Interaktion medizinischer Fachdisziplinen, humanitärer Organisationen und Behörden unabdingbar. Von FGM/C betroffene Mädchen und Frauen leiden unter vulvovaginalen und urogenitalen Form- und Funktionsstörungen sowie psychosexuellen Beeinträchtigungen. Hierunter zählen genitale Gewebeverluste und Deformierungen, Beeinträchtigungen der klitoralen Empfindung, Fisteln, Narbenbeschwerden, Schmerzen, Abflussbehinderungen von Urin und Menstruationsblut, aufsteigende Infektionen, organisch beeinträchtigtes Sexualleben, mechanisch bedingte Gewebezerreißung durch Geschlechtsverkehr oder Geburten und schließlich psychische Belastungen.
Alle diese Faktoren beeinträchtigen die Sexualität, das Körperbild, die Körperfunktion und damit das psychophysische Gleichgewicht. Die Sexualität ist ein Kernthema im Rahmen von FGM/C. Sie steht in direktem Zusammenhang mit einer gesunden genitalen Form und Funktion, hängt aber auch von einer ungestörten Selbstwahrnehmung ab, welche wiederum aus einer als „normal“ empfundenen Form und Funktion resultiert. Rekonstruktive Operationstechniken werden daher häufig an ihrem Potenzial bemessen, inwieweit sie diese „Normalität“ erreichen können.1,4
Am Zentrum für Rekonstruktive Chirurgie weiblicher Geschlechtsmerkmale, Luisenhospital Aachen, wird mittels wissenschaftlich fundierten Operationstechniken4,5 konsequent das Ziel verfolgt, eine organisch ganzheitliche Rekonstruktion des äußeren weiblichen Genitals zu gewährleisten. Mit diesem Ansatz hat das Zentrum seit seiner Gründung im Jahre 2014 grenzübergreifende Bedeutung erlangt. Neben der Rekonstruktion nach FGM/C ergeben sich weitere Indikationen, wie beispielsweise nach geburtstraumatischen Verletzungen (z.B. Episiotomien, Dammriss), Tumorerkrankungen (z.B. VIN, Karzinome), Dermatosen (z.B. Lichen), Weichteilinfektionen (z.B. Klitorisabszess), Geschlechtsangleichungen (Transsexualität) oder angeborenen Fehlbildungen (z.B. Adrenogenitales Syndrom [AGS], Vulva-/Hymenalatresie). Ziel ist immer eine Normalisierung von Form und Funktion als kurative und medizinisch indizierte Maßnahme, deren Inhalte sich nach der Ausprägung des Gewebeschadens/-verlustes richten.
Typen von FGM/C
Das Ausmaß der Beschneidung, mit den daraus folgenden Form- und Funktionsbeeinträchtigungen, ist traditionsabhängig und wird nach der WHO6 in vier Typen mit Untertypisierungen eingeteilt:
- Typ I: Anteilige oder komplette Entfernung der Klitoris (Glans clitoridis) und/oder der Klitorisvorhaut (Praeputium clitoridis)
- Typ I a: Entfernung der Klitorisvorhaut
- Typ I b: Entfernung der Klitoris und der Klitorisvorhaut
- Typ II: Partielle oder komplette Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen (Labia minora pudendi), mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippen (Labia majora pudendi); Exzision
- Typ II a: Entfernung der kleinen Schamlippen
- Typ II b: Partielle oder komplette Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen
- Typ II c: Partielle oder komplette Entfernung der Klitoris, der kleinen und der großen Schamlippen
- Typ III: Verengung der vaginalen Öffnung mit Herstellung eines bedeckenden, narbigen Hautverschlusses durch das Entfernen und Zusammenheften oder -nähen der kleinen und/oder großen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der Klitoris; Infibulation
- Typ III a: Entfernen und Zusammennähen der kleinen Schamlippen
- Typ III b: Entfernen und Zusammennähen der großen Schamlippen
- Typ IV: Alle anderen rituell motivierten, schädigenden Eingriffe, welche die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zweck dienen, zum Beispiel: Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Ausschaben, Ausbrennen, Verätzen oder Dehnen.
Die seitens der WHO verwendete Bezeichnung „Klitoris“ beinhaltet nicht sämtliche anatomische Untereinheiten des Klitorisorgans wie die Glans clitoridis, die Corpora clitoridis und die Crura clitoridis, sondern bezieht sich auf die Glans clitoridis und Anteile der Corpora clitoridis. Das verbleibende Restorgan bildet die anatomische Grundlage für eine funktionelle Rekonstruktion einer neuen Glans clitoridis.7
Die Typen IIc und III nach der WHO-Einteilung spiegeln organisch die gravierendsten Formen der rituellen weiblichen Genitalbeschneidung wider. Neben dem komplexen klitoralen Gewebe- und Funktionsverlust zeigen sich aus-geprägte Gewebeverluste und Verengungen des Scheideneingangs. Die rituelle weibliche Genitalbeschneidung (FGM/C) resultiert in einem häufig funktionsübergreifenden Gewebeverlust des äußeren weiblichen Genitals mit physischer und psychischer Leidenskomponente der betroffenen Mädchen und Frauen. Von daher ist FGM/C in Deutschland verboten und seit Oktober 2013 in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) nach der WHO klassifiziert verankert (ICD10, Z91.7, Weibliche Genitalverstümmelung in Eigenanamnese).
Patientinnen und Indikation
In Europa stehen von FGM/C betroffene Patientinnen häufig im Migrationszusammenhang afrikanischer, asiatischer oder arabischer Kulturkreise. Die rituelle Genitalbeschneidung wird in diesen Ländern gänzlich anders bewertet als im europäischen oder westlichen Raum. Der respektvolle Umgang mit der jeweiligen Kultur ist daher eine Grundvoraussetzung für die Kommunikation mit den Patientinnen, da nicht die Kultur, sondern deren Auswirkungen das Leid bestimmen. Für die Patientinnen beginnt nach der Rekonstruktion regelmäßig ein neues Körperbewusstsein, mit dem sie sich wieder vollständig als Frau fühlen können. Ein überaus positiver Effekt, der sich auf viele Dinge nach innen und nach außen auswirkt.
Anatomie des Klitorisorgans inmitten der Regio urogenitalis
Die Region oberhalb der Analregion, welche seitlich von den unteren Schambeinästen (Rami inferior ossis pubis) und oberhalb vom Schambein (Symphyse) begrenzt ist, wird als Urogenitalregion bezeichnet. Innerhalb dieser Region wird das äußere weibliche Genital zusammengefast. Das Bindeglied zwischen der Analregion und der Urogenitalregion ist der sogenannte Damm (Perineum oder Regio perinealis).8 Insbesondere die Anatomie der Klitoris ist komplex.9 Die gesamte Urogenitalregion hat Bedeutung für die sexuelle Funktion, bei der das Klitorisorgan eine Schlüsselrolle innehält.10 Das Klitorisorgan (Abb. 1) setzt sich aus den Klitorisschenkeln (Crura clitoridis), welche parallel zu den unteren Schambeinästen verlaufen, den Klitoriskörpern (Corpora clitoridis), welche vor der Symphyse aufsteigen und der Klitorisspitze (Glans clitoridis), in welche die Klitoriskörper münden, zusammen.11,12
Die Klitoriskörper sind im Bereich der Symphyse an den Ligamanta suspensoria fixiert.10,13 Durch deren Rückstellkräfte wird das Klitorisorgan z.B. im Rahmen einer Amputation der Glans clitoridis in Richtung der Symphyse zurückgezogen. Die klitorale Vorhaut (Präputium) bedeckt und flankiert die äußerlich sichtbare Glans clitoridis und angrenzenden Corpora clitoridis.
Die sensorische Innervation des Klitorisorgans erfolgt durch die Nn. dorsalis clitoridis aus dem Plexus pudendus, welche unter der Symphyse hervortreten und die Corpora clitoridis auf 11 und 13Uhr flankierend begleiten, um sich schließlich in der Glans clitoridis in deren Endäste aufzuzweigen.10,12
Die anatomische Vulva-Rekonstruktion
Die Detailkenntnis der urogenitalen Anatomie und die Vertrautheit mit funktionsübergreifenden, rekonstruktiven Verfahren unter Berücksichtigung der Mikrochirurgie sind Grundvoraussetzungen für die Rekonstruktion nach weiblicher Genitalverstümmelung. Das rekonstruktive Spektrum für sekundäre Verletzungen und/oder Veränderungen nach FGM/C ist groß und reicht von funktionsverbessernden Narbenkorrekturen einschließlich Dammrekonstruktionen über Tumorentfernungen wie Klitoriszysten bis hin zum komplexen Gewebetransfer.7
Die im Folgenden aufgeführten Rekonstruktionsverfahren sind vom Autor speziell für die Vulva-Rekonstruktion entwickelte operative Techniken.4,5,7,14,15 Rekonstruktive Prinzipien wie „Gleiches mit Gleichem“ zu ersetzen, „anatomische Einheiten“ zu berücksichtigen und das „Narbenbild“ zu reduzieren, werden konzeptionell ebenso einbezogen wie Form- und Funktionsbesonderheiten der Genitalregion. Die Deinfibulation (Eröffnung) ermöglicht oder verbessert den Zugang zur Scheide und erleichtert den Harnaustritt, stellt jedoch keine Form- und Funktionsrekonstruktion verlustiger Gewebeanteile dar. Die rekonstruktiven Eingriffe nach FGM/C5,7,14,15 beinhalten insbesondere die mikrochirurgisch-funktionelle Rekonstruktion einer Klitorisspitze mittels NMCS-Procedure (Neurotizing and Molding of the Clitoral Stump), die Rekonstruktion einer klitoralen Vorhaut mittels OD-Lappenplastik (Omega-Domed flap), die Rekonstruktion des Vestibulums mittels aOAP-Lappenplastik mit oder ohne etwaig nötiger Deinfibulation des Scheideneingangs und schließlich die Rekonstruktion kleiner und/oder großer Schamlippen in Kombination der aOAP-Lappenplastik und lokalem Geweberecruitment (Abb. 2a–c). Darüber hinaus müssen im Rahmen der Rekonstruktion nach FGM/C auch sekundäre Beeinträchtigungen wie klitorale Zysten, geburts- oder verkehrstraumatische Damm- und Vestibulumzerreißungen oder Fisteln Berücksichtigung finden.7,16,17 Patientinnen nach FGM/C sind gerade auch im Flüchtlingskontext sexueller Gewalt ausgesetzt, welche neben Erweiterungen eines psychischen Traumas auch zu zusätzlich erschwerenden vulvo-vagino-perinealen Verletzungen führen können. Auch diese gilt es, operativ zu berücksichtigen, um eine allumfassende und nachhaltige Wiederherstellung zu gewährleisten.
Schlussbemerkung
Sowohl der autologe Gewebetransfer im Rahmen der Vulva-Rekonstruktion (aOAP-Lappenplastik) als auch die mikrochirurgische Neurotisation der rekonstruierten Klitorisspitze (NMCS-Procedure) sind technisch komplexe Verfahren, welche auf anatomisch gerechte Gewebeverhältnisse und damit auf eine Normalisierung von Form und Funktion abzielen. Dies verlangt vom Operateur sowohl eingehende Kenntnisse pathologischer Veränderungen nach FGM/C als auch der speziellen urogenitalen Anatomie und plastisch-rekonstruktiver Prinzipien einschließlich der Mikrochirurgie. Aufgrund der neu gewonnenen genitalen Gewebequalität ist die Nachbetreuung der Patientinnen ein wichtiges Thema. Im Rahmen von regelmäßigen Wiedervorstellungen über einen Einjahreszeitraum zählen Befundkontrollen mit Anleitungen zur Gewebe- und Narbenpflege ebenso zur Routineberatung wie Erläuterungen zur Empfindungskapazität des Klitorisorgans oder Einschätzungen einer möglichen vaginalen Entbindung. Die vorgestellten Operationstechniken zur speziellen Vulva-Rekonstruktion namens aOAP-Lappenplastik, OD-Lappenplastik und NMCS-Prozedur leisten damit über die Normalisierung von Form und Funktion einen effektiven Beitrag zur individuellen Überwindung der Folgen von FGM/C.